Inkontinenz

Inkontinenz nennt man den Verlust oder das Nichterlernen der Fähigkeit, Stuhl und/oder Urin sicher zu speichern und an gewolltem Ort zu einer selbstbestimmten Zeit auszuscheiden. Das Spektrum der Inkontinenz-Formen und -Grade ist breit. Es reicht vom häufigen, oft überfallartigem ("imperativem"), über gelegentlichen Urin- oder Stuhlverlust bei körperlicher Belastung bis hin zu hochgradigen Inkontinenz-Formen, die eine permanente Versorgung erforderlich machen.

Die Klinik für Urologie hat sich auf die Behandlung der Inkontinenz bei Frauen und Männern spezialisiert. Unsere Philosophie lautet: genaue Erhebung der Beschwerden – gute Diagnostik – gezielte Therapie. Hierzu haben wir eine Spezialsprechstunde für Sie eingerichtet. Diese wird von unserem Oberarzt Dr. med. Till Rasmus Schneider durchgeführt. Einen Termin können Sie telefonisch über die Leitstelle der Poliklinik unter 0551 3968160 vereinbaren. Für Fragen vorab steht Ihnen Oberarzt Dr. med. T. R. Schneider per Mail zu Verfügung.

Die Klinik für Urologie ist als Beckenboden- und Kontinenzzentrum zertifiziert.

Wer ist davon betroffen?

Das Krankheitsbild der verschiedenen Inkontinenzformen ist ein weltweites und von der Alterschicht unabhängiges verbreitetes Leiden. In der Bundesrepublik Deutschland sind ca. 6 Millionen Menschen beider Geschlechter und aller Altersstufen betroffen. Im Laufe ihres Lebens kämpfen etwa 50 % aller Frauen mit den Problemen und Tücken des ungewollten Urinverlustes. Aus Scham wird das Leiden sehr lange - selbst dem Arzt gegenüber - verschwiegen. Die Harninkontinenz ist für den Betroffenen oft eine schwere körperliche und seelische Belastung, die zur Beeinträchtigung der Bewegungsfreiheit und zu sozialem Rückzug führt sowie mit einer deutlichen Einbuße an Lebensqualität einhergeht. Der größte Teil der Pflegeheimbewohner (ca. 90%) sind inkontinent. In vielen Fällen wird die Inkontinenz und damit verbundene "(Geruchs-)Belastung" der Angehörigen als Einweisungsgrund für die Unterbringung in einer Pflegeeinrichtung genutzt.

Altersaufbau/-entwicklung in der BRD von 2003 bis 2040 (Quelle: www.kontinenz-gesellschaft.de)

Aufgrund der unterschiedlichen Formen und Ursachen von ungewolltem Urinverlust ist es für Betroffene ganz entscheidend, sich an einen erfahrenen Arzt bzw. an ein spezialisiertes Zentrum, insbesondere an einen Urologen, zu wenden. Nur in einem kompetenten Behandlungs- und Beratungszentrum erhält der Betroffene durch gezielte Fragestellungen und Untersuchungen eine individuell angepasste Therapie.

Formen

Es existieren verschiedene Formen der Harninkontinenz (HI):

  • Urgeinkontinenz (Dranginkontinenz)
  • Belastungsinkontinenz (alte Bezeichnung: Stressinkontinenz)
  • Mischinkontinenz
  • Extraurethrale Inkontinenz

Diagnostik

Da die verschiedenen Inkontinenzformen einer unterschiedlichen Therapie bedürfen, besteht nur nach gesicherter Diagnose die Möglichkeit einer gezielten Therapie. Neben den klassischen Therapieverfahren der Stressharninkontinenz (zum Beispiel Op nach BURCH, Sakropexie) existieren auch minimal-invasive Therapiekonzepte wie die anteriore intravaginale Schlingenplastik. Für die Sicherung des operativen Erfolges der intravaginalen Schlingenplastik sollte eine gute präoperative Diagnostik der weiblichen Stressinkontinenz erfolgen.

Die Belastungsinkontinenz basiert auf dem Verlust der Verschlussmechanismen der Harnröhre. Die unterschiedlichen Verschlussmechanismen sind:

  • Harnröhrentonus – Verschlussdruck der Harnröhre: Ruheprofil
  • Drucktransmission – Belastung des Blasenhalses und der Harnröhre (proximalen Urethra): Stressprofil
  • Kontraktion der Blasenmuskulatur (Detrusor) und der Beckenbodenmuskulatur: Arbeitsprofil

Die anatomische Lokalisation des Defektes der Belastungsinkontinenz befindet sich in der vorderen Schadenszone (Level III – Level-Einteilung nach deLancey) und führt zur suburethralen Lockerung.

Die Evaluation der Harninkontinenz beginnt mit einer ausführlichen Anamnese und der körperlichen Untersuchung. In der Anamnese findet man Informationen über die Symptomatik, über Voroperationen, über die Anzahl der Schwangerschaften, über mögliche Unfälle oder Stoffwechselerkrankungen und über die Einnahme von Medikamenten. Diese kann erleichtert werden durch standardisierte Anamnesefragebögen. Das Miktionstagebuch dient zur Dokumentation der Art und des Schweregrades des Urinverlustes. Es werden sowohl die Menge und die Häufigkeit der Spontanmiktion als auch der Drang und der unwillkürliche Harnverlust vermerkt. Ein Urinverlust ohne Harndrang – aber in Zusammenwirken mit einer körperlichen Aktivität – deutet zum Beispiel auf eine Belastungsinkontinenz hin.

Der körperliche Status mit rektaler Untersuchung und vaginaler Einstellung, der Ultraschall des oberen und unteren Harntraktes sowie der Uroflow mit sonographischer Restharnbestimmung gehören zu den Basisuntersuchungen. Bei der rektalen Untersuchung und vaginalen Inspektion mit Beurteilung des äußeren Genitale und der vaginalen Schleimhaut werden mögliche Zystozelen, Rectozelen oder Enterozelen erkannt. Eine hypotrophe Vaginalschleimhaut durch ein altersbedingtes oder durch eine hormonelle Störung bedingtes Östrogendefizit wirkt sich auf den Harnröhrenverschluss negativ aus. Durch die Komplexität des pelvic floor dysfunction (Beckenbodeninsuffizienz) kommt es nicht nur zum Deszensus der vorderen Vaginalwand sondern auch zum Austritt der hinteren Vaginalwand. Weiterhin kann dies zur Hypermobilität des Vaginalstumpfes bis hin zum Prolaps führen.

Die anatomische Form der Harnblase in Ruhe oder unter Miktionsbedingungen können bei der vaginalen Einstellung, im Miktionszystogramm oder bei der vaginalen Endosonographie (in speziellen Fällen im Defäkations-MRT) beurteilt werden. Ebenfalls wird die Dynamik der Miktion und die durch den Deszensus der Harnblase bedingte Veränderung des anatomisch korrekten vesicourethralen Winkels bzw. eine bedingte Verlängerung des funktionell relevanten Harnröhrenabschnittes dokumentiert. Ein ungewollter Urinverlust tritt auch bei pathologisch veränderter Urethra auf. Neben der radiologischen Diagnostik sollten die urethrozystoskopische Beurteilung der Urethra und die Harnröhrenkalibrierung mit Bougie á boule die Diagnostik abrunden.

Der Stresstest weist den Urinverlust unter physischer Aktivität nach. Dazu wird die Patientin bei mittelgradig gefüllter Harnblase (ca. 300 ml) aufgefordert sowohl in Steinschnittlagerung als auch in Fechterstellung kräftig zu husten. Ein synchroner Urinverlust zum Hustenstoß deutet auf einen stressbedingten Harnverlust hin.

Zu den weiterführenden notwendigen Untersuchungen gehört die Videourodynamik zur Differenzierung der neurologisch bedingten und stressbedingten Harninkontinenz. In dieser Untersuchung sollte auf die Aktivität des Detrusors geachtet werden. Zusätzlich kann zwischen einem stressbedingten Urinverlust und einem Harnverlust auf Grund einer getriggerten autonomen Kontraktion des Detrusors unterschieden werden. Ein direkter Nachweis der Belastungsinkontinenz unter urodynamischen Untersuchungsbedingungen ist nicht zwingend notwendig. Zusätzliche Informationen über den Pathomechanismus der Belastungsinkontinenz liefert ein Urethraruhedruck- und Stressprofil. So erfolgt die Differenzierung zwischen hypotoner oder hypertoner Urethra und zwischen einer verminderten aktiven und/oder passiven Drucktransmission.

Nach Auswertung aller Untersuchungsbefunde der präoperativen Diagnostik kann mit der Patientin ein ausführliches Aufklärungsgespräch über den Therapieerfolg und über die Grenzen der geplanten Operation erfolgen.

Übersicht der Standarddiagnostik

  • Anamneseerhebung einschließlich Medikamentenanamnese
  • Miktionsprotokoll
  • Paraklinik
  • Ultraschall des oberen und unteren Harntraktes
  • Stresstest (Belastungstest; Hustentest)
  • Uroflow mit sonographischer Restharnbestimmung
  • Zystoskopie mit Bougie á boule und vaginaler Einstellung
  • MCU
  • Simultane videogestützte Flowzytometrie mit Urethradruckprofil

Therapie der Dranginkontinenz

Die Behandlung des ständigen Dranges zum Wasserlassen ist durch eine komplexe Therapiestrategie gekennzeichnet. Sie beinhaltet sowohl konservative als auch operative Behandlungsmöglichkeiten. Zu der konservativen Behandlung gehören die Verhaltenstherapie (Miktionsprotokoll, Miktionstraining, Toilettentraining, Beckenbodentraining, Psychotherapie), die Pharmakotherapie (Anticholinergika {Medikamente mit dämpfender Wirkung auf den Blasenmuskel – Detrusor}, trizyclische Antidepressiva, myotrope Spasmolytika, Östrogene, Alphablocker, Antispastika). Weiterhin zählt dazu der Einsatz von Vorlagen und/oder speziellen Urinableitsystemen.

Bei der fehlenden oder nicht befriedigenden Besserung der Drang-Inkontinenz kommen auch operative Behandlungsmöglichkeiten zum Einsatz.
Hierfür stehen zwei weitere Therapiemöglichkeiten zur Wahl:

  • BotulinumToxin A - Injektion
  • Neuromodulation

Botulinum-Toxin A

Das Botulinum-Toxin A ist den meisten Patienten im Zusammenhang mit der Schönheitschirurgie (Plastische Chirurgie) bekannt. Aber auch in der Urologie wird dieses Medikament seit Jahren erfolgreich eingesetzt. Bei der Behandlung der Dranginkontinenz wird das Medikament verdünnt bei einer Blasenspiegelung über eine dünne flexible Nadel in den Blasenmuskel injiziert. Das Medikament hemmt die Freisetzung eines Überträgerstoffes (Acetylcholin) am Übergang vom Nerv zum Blasenmuskel. Nun wird ein überaktiver Blasenmuskel „ruhig gestellt“, da er auf die nervale Reizung nicht mehr reagieren kann. Der Erfolg dieser Behandlung tritt in der Regel zwischen ein bis drei Wochen auf. Diese Behandlungsform führt bei vielen Patienten zu einer deutlichen Besserung ihrer Beschwerden. Die Operation ist sicher und der Eingriff kann nach Nachlassen der Wirkung frühestens nach ca. 6 – 9 Monaten ohne Probleme wiederholt werden.

Neuromodulation

Durch eine Stimulation der afferenten Fasern des Nervus pudendus (elektrische Neuromodulation) kann eine Verbesserung der Drang-Inkontinenz erreicht werden. Bei dieser Therapieform stimuliert man die Nervenfasern, die die Blase und den Schließmuskel versorgen, mit Strom. Dazu müssen dünne Kabel an die Nerven im Bereich des Steißbeins (Rücken) implantiert werden. Durch sanfte, nicht schmerzhafte elektrische Stromstösse werden anschließend die Nerven, die auf die Blasenmuskulatur /-funktion wirken, stimuliert. Durch dieses Verfahren ist eine Normalisierung einer zuvor fehlgesteuerten Blasenfunktion möglich. Vor einer dauerhaften Implantation des Systems muss zunächst eine Testphase über ca. 7 Tage ("PNE-Test") erfolgen. In dieser Zeit wird untersucht, ob der Patient für diese Therapieform in Frage kommt.

Bei erfolgreichem Test können nun die dauerhaften Elektroden mit dem Neuromodulator („Blasenschrittmacher“) implantiert werden. Mit Hilfe einer Fernbedienung kann der Patient die Stimulation ein- und ausschalten und die Stärke der Stimulation einstellen. Nun kann der Patient mit der Fernbedienung die Blasenentleerung gezielt auslösen bzw. unterdrücken.

Therapie der Belastungsinkontinenz

Die Behandlung der Belastungsinkontinenz kann sowohl konservativ als auch operativ erfolgen. Zu der konservativen Therapieform gehören gezielte krankengymnastische Übungen, physikalische Therapie (Biofeedback, Elektrostimulation), medikamentöse Therapie (Duloxetinhydrochlorid, Alpha- Sympathomimetika, Östrogene), mechanische Hilfsmittel (Pessare und spezielle Tampons) und die Änderungen der Lebensgewohnheiten (Gewichtsreduktion). Ziel der physikalischen Therapie und der krankengymnastischen Übungen ist eine Kräftigung des Beckenbodens und damit der Harnröhrenverschlussmechanismen (Beckenbodengymnastik) sowie Übungen für die willkürliche Kontrolle der Blase (Biofeedbacktraining). Die medikamentöse Therapie mit lokalem Östrogen dient der Verbesserung der lokalen Durchblutung und Vitalisierung der Scheide und des Umgebungsgewebes der Urethra. Die orale Therapie mit Duloxetinhydrochlorid (Yentreve®) dient zur Normalisierung des Blasenschließmuskels, der bei einer Schwächung eine Belastungsinkontinenz verursachen kann. Es wird vermutet, dass Yentreve® durch eine Steigerung der Neurotransmitter-Konzentration (körpereigene Botenstoffe) den Tonus und die Kontraktion des Blasenschließmuskels erhöht. So kann verhindert werden, dass ein ungewollter Urinverlust während der körperlichen Aktivität (z.B. Niesen, Husten, Lachen, Heben und Sport) auftritt.

Zu den operativen Behandlungsmethoden zählen die retropubische Suspensionsplastik (n. BURCH), die spannungsfreien Vaginalbänder und Implantate (künstlicher Schliessmuskel) sowie Injektionen. Bei der retropubischen Suspensionsplastik wird über einen kleinen Unterbauchschnitt in der Nähe von Blasenhals die Harnröhre mit Hilfe von Fäden an einem Beckenknochen oder benachbarten Stützgeweben befestigt, um die Harnblase/Harnröhre in der richtigen Position zu halten. Diese Technik kann auch laparoskopisch durchgeführt werden. Das spannungsfreie Vaginalband, welches für einige Frauen mit Belastungsharninkontinenz geeignet ist, wird in einem minimalinvasiven, chirurgischen Verfahren eingesetzt. Bei diesem Verfahren wird ein Kunststoffband spannungsfrei unter die Harnröhre eingelegt und oberhalb des Schambeinknochens (in der Bikinizone) oder durch das Foramen Obturatorius (Oberschenkelinnenseite) ausgeleitet. Der Eingriff kann unter örtlicher Betäubung vorgenommen werden und dauert nur etwa eine halbe Stunde. Die Genesungszeit nach dem Eingriff ist kurz und die Patientinnen haben danach nur wenige Komplikationen und minimale Operationsnarben. Die neue Generation der spannungsfreien Vaginalbänder (z.B. TVT secure, MiniArcTM mini-sling) wird nur über einen kleinen vaginalen Einschnitt eingelegt, sodass keine oberflächliche Hautnarben entstehen.

Die Unterspritzung des Schließmuskels erfolgt unter Sicht über die Harnröhre mittels einer Nadel (z.B. mit Silikon, Teflonpaste, Kollagen oder Hyaluronsäure-Derivat) im Bereich des Harnröhrenschließmuskels. Dadurch kann sich die Belastungsinkontinenz verbessern. Diese Möglichkeit stellt eine Therapiealternative dar und wird bei Patienten / Patientinnen angewendet, für die keines der anderen Verfahren aufgrund von Voroperationen, Nebenerkrankungen, des Allgemeinzustandes oder frustraner Voroperationen in Frage kommen.

Therapie der Mischinkontinenz

Die Mischinkontinenz ist eine Verkettung der Symptome (Beschwerden) der Belastungs- und Urge- (Drang-)inkontinenz. So setzt sich die Behandlung aus einer Kombination der Therapiemöglichkeiten der beiden Inkontinenzformen zusammen. Hierbei sollte der erste Behandlungsschritt von der überwiegenden (belastenden) Inkontinenz geprägt sein. Dies kann der erfahrene Arzt nach Auswertung der Untersuchungsbefunde herausfinden.

Therapie der extraurethralen Inkontinenz

Die extraurethrale Inkontinenz ist auf Grund der Ursachen für eine konservative Therapie nicht geeignet. Das Tragen von Inkontinenzhilfmaterialien (z.B. Vorlagen) beseitigt nicht den Grund des ungewollten Urinverlustes. Die operative Versorgung der möglichen Ursachen (z.B. Blasen- Scheiden-Fistel, Harnleiter-Scheiden-Fistel, ektoper Ureter) ist der einzige Ausweg, den ungewollten Urinverlust zu beheben. Die Nachsorge sollte bei Fachärzten für Urologie oder Gynäkologie durchgeführt werden.

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